Mehrfach holte Blay tief Luft, bevor er bei Rhage und Mary an die Tür klopfte. Es dauerte einen Moment bis Rhage ihm öffnete und er wirkte nicht sonderlich begeistert über die Störung.
„Was gibt es denn? Ich hab heute frei.“
„Ich weiß. Du... du müsstest mitkommen. In die Krankenstation. Es ist... sehr wichtig.“ antwortete Blay ernst und hielt dabei den Blick des Bruders stand.
Falten bildeten sich auf Rhages Stirn und sein Blick wurde verschleiert von Sorgen. „Was ist passiert?“ wollte er wissen.
„Komm mit. Und beeil dich. Es ist wirklich... wichtig.“
Die Antwort genügte Rhage um zu wissen, dass es etwas sehr ernstes sein musste und er rechnete mit dem schlimmsten – dass es mit Kristin zu tun hatte. „Mary!“
Seine Shellan erschien neben ihm und er nahm ihre Hand fest in seine, um Blay mit ihr zusammen zu folgen.
Blay konnte gar nicht so schnell reagieren, wie Rhage auf die Tür zum Behandlungsraum zu stürmte und diese öffnete, kaum, dass sie die Krankenstation erreicht hatte. Allerdings schob sich Vishous ihm sofort entgegen und versuchte, ihn zurück zu drängen.
„Lass das, V! Lass mich durch! Lass mich zu meiner Tochter! Was ist mit ihr?“ schrie Rhage außer sich und es kostete Vishous all seine Kraft um Rhage irgendwie festzuhalten.
Mary presste eine Hand vor ihren Mund, als sie durch die nun halb geöffnete Tür ihre Tochter sehen konnte. Ihre Knie gaben nach und Blay fing sie so gerade noch auf, bevor sie zu Boden ging, zog sie mit sich hoch und schlang ihr einen Arm um die Hüften um sie zu halten. „Kristin.“ flüsterte sie tonlos und für einen Moment lang waren ihre leisen Schluchzer das einzige was in einer bis zum Zerreissen angespannten Stille zu hören war.
„Rhage, Jane tut alles um ihr zu helfen, okay? Aber du musst jetzt draußen warten und mich ihr helfen lassen.“ sagte Vishous, seine Stimme ruhig aber bestimmt, seine Hände noch immer gegen die Schultern des anderen Vampirs gestemmt.
Rhage schwieg, seine Gesichtszüge völlig verzerrt in einer Mischung aus Wut, Verzweiflung und Angst. Und es war Marys Schluchzen, das ihm sagte, dass seine Shellan ihn nun an ihrer Seite brauchte. Nach einem kurzen Moment ließ er von Vishous ab. „Rettet mein Baby, V.“ presste er schwach hervor und drehte sich dann um, um Mary in seine Arme zu ziehen.
„Setzt euch. Jane hat vorhin gesagt, dass es wohl dauern könnte.“ sagte Qhuinn. Als Blay sich neben ihn setzte und seine Hand in seinen Nacken schob um sanft über die Haare in diesem zu streicheln, schenkte er ihm ein dankbares, kleines Lächeln.
Rhage führte Mary zu den Stühlen, deren Beine sie noch immer nicht so recht tragen wollten. „Unser... unser kleines Mädchen.“ flüsterte sie schluchzend.
„Shhhht.“ Rhage presste einen Kuss auf ihren Haaransatz. „Sie... sie wird es schaffen.“ versuchte er ihr zu sagen. In Wahrheit aber fühlte er sich genauso hilflos wie Mary, hatte die gleiche Angst wie sie, wenn nicht noch schlimmer.
Rhage war es gewöhnt zu kämpfen, gewöhnt es selber in der Hand zu haben und alles und jeden besiegen zu können. Jetzt jedoch konnte er nichts anderes tun als hier zu sitzen und zu warten und das war schlimmer als alles, was er bisher je erlebt hatte. Kristin zu verlieren wäre wie, wenn man ein Stück seines Herzens aus seinem Herzen reissen würde.
Brahve hatte bisher nur völlig unbeteiligt da gesessen, seinen Blick unverwandt auf die Tür gerichtet, hinter der Jane mit der Hilfe von Vishous und Ehlena versuchte, Kristins Leben zu retten. Er hatte nichts von dem um sich herum mitbekommen, sagte nur immer wieder vor sich hin, wie leid es ihm tat. Er fühlte sich wie ein Versager, der zu nichts zu nutzen war und alle, die ihm nahe standen nur gefährdeten. Vielleicht hatte sein Vater ja doch recht...
„Was ist mit dir und deinem Bein?“ fragte Qhuinn ihn und riss ihn für einen Moment aus seinen selbstzerstörerischen Gedanken.
„Nichts.“ gab er zurück.
„Lüg mich nicht an. Ich hab gesehen, dass du hinkst!“ sagte Qhuinn streng.
„Es ist egal, sie... müssen erstmal Kristin helfen.“ murmelte er.
Qhuinn nickte, das konnte er für den Moment akzeptieren. Jedoch war er der Meinung, dass sich auch jemand um den Zustand des jungen Prinzen kümmern sollte.
„Ich geh Beth holen.“ sagte Blay neben ihm, bevor er selber genau das hatte sagen können.
„Ich liebe dich.“ murmelte Qhuinn leise.
Blay lachte. „Ja ich dich auf.“ sagte er und stand dann auch schon auf um wieder ins Haus zu gehen.
Zum ersten Mal seitdem er hier war, richtete Rhage nun seine Aufmerksamkeit auf Brahve. Bisher hatte er sich noch keine Gedanken darüber gebracht, warum der Prinz hier war und in welchem Zusammenhang er mit dem Zustand seiner Tochter stand.
„Was hast du mit ihr angestellt?“ fragte Rhage, seine Stimme rau von Emotionen und ungeweinter Tränen, die er Mary zu Liebe so weit zurück gedrängt hatte wie es ihm möglich war.
Bevor Brahve etwas sagen konnte, griff Qhuinn ein. „Er hat sie alleine und nur mit einem Messer bewaffnet gegen vier Lesser verteidigt! Ihn trifft keine Schuld.“
Brahves Augen weiteten sich. Aus dieser Sichtweise hatte er es noch nie gesehen. Aber dennoch... er hatte nicht genug getan, hatte nicht verhindert, dass diese Schweine ihr weh getan hatten...
Rhage schluckte schwer bei dem Gedanken daran, dass sein Mädchen auf Lesser getroffen war und schwor sich innerlich, eigenhändig jeden Einzelnen von ihnen zu töten, wenn er sie in die Hände bekam.
Seufzend zog er erstmal Mary wieder enger an sich und starrte weiterhin auf diese Tür hinter der seine Tochter um ihr Leben kämpfte.
Kristin blinzelte schwer. Um sie herum war alles weiß. So hell, dass sie es kaum schaffte ihre Augen gegen das grelle Licht zu schützen, diese wirklich offen zu halten. Sie brauchte nicht lange zu überlegen um zu wissen, wo sie jetzt war. Das hier war der Schleier. Und das bedeutete, dass sie tot war.
Tränen schien es hier nicht zu geben. Ihre Augen waren schmerzhaft trocken, obwohl ihr nach Weinen zu Mute war. Sie fühlte sich alleine. Verloren. Fehl am Platz. Als würde sie nicht hier her gehören.
„Also im Großen und Ganzen nicht anders als in meinem Leben.“ dachte sie sarkastisch.
„Du gehörst auch nicht hier her. Du solltest gar nicht hier sein.“ hörte sie eine Stimme, von der sie nicht sicher war, ob sie wirklich existierte oder sie diese nur in ihrem Kopf hören konnte.
„Aber ich bin doch tot.“ murmelte sie.
„Nein. Du gehörst noch nicht hier her. Du solltest wieder zurück. Deine Aufgabe ist noch nicht erfüllt.“
Kristin wollte widersprechen, wollte Fragen stellen, von was für einer Aufgabe diese Stimme gesprochen hatte, aber im nächsten Moment nahm wieder diese Angstmachende Schwärze sie gefangen und sie konnte weder etwas sehen, noch etwas hören.
Blay klopfte an die Tür von Wraths Arbeitszimmer, räusperte sich leicht und betrat es dann, war erleichtert zu sehen, dass nur Beth sich in diesem aufhielt. Offenbar arbeitete sie an ein paar Briefen, die geschrieben werden mussten. Es war zur Gewohnheit geworden, dass sie Wrath bei der Büroarbeit unterstützte, da er wegen seinen Augen ja das meiste nicht wirklich selber machen.
Beth sah auf, als Blay das Büro betrat. „Hallo Blay. Wrath ist nicht da. Er ist mit Rehv zusammen zu irgendeinem Meeting unterwegs.“ sagte sie und lächelte leicht.
„Nein, das ist schon okay so. Ich wollte eigentlich zu dir. Würdest du... kommst du bitte mit in die Krankenstation?“ bat er sie vorsichtig.
„In die Krankenstation?“ Beth ließ die Papiere fallen, die sie in den Händen hielt und sah ihn besorgt an. „Was ist denn passiert?“
„Es... geht um Brahve. Oder um Kristin. Na ja, um beide. Offenbar waren sie zusammen unterwegs, als sie von Lessern angegriffen worden sind. Brahve geht es soweit gut. Er hat eine Verletzung am Bein, vermutlich von einem Messerstich. Kristin... ist ziemlich schwer verletzt. Jane, Vishous und Ehlena kümmern sich gerade um sie. Brahve nimmt das Ganze wohl nur... ziemlich schwer, weil er dabei war und ihr nicht helfen konnte. Ich denke, er könnte dich jetzt brauchen.“
Beth glaubte zunächst, dass ihr das Blut in den Adern gefrort, als Blay erwähnte, dass Brahve und Kristin von Lessern angegriffen worden sind. Andererseits schätzte sie die Offenheit mit der Blay ihr alles erklärte. Als er fertig war, stand sie sofort auf und nickte. „Ja, natürlich. Ich komme mit.“ Sie war sich zwar nicht mal sicher, ob Brahve sie jetzt überhaupt sehen wollen würde, aber unter keinen Umständen wollte sie ihn jetzt alleine mit all dem lassen, was passiert war. Er war nun mal ihr Sohn!
Zusammen mit Blay lief Beth nach unten in die Krankenstation, wo sie als erstes schluckte als sie Rhage und Mary eng aneinander gedrängt da sitzen sah und sich selber wegen dem Gedanken hasste, froh zu sein, dass es nicht ihr Kind war, bei dem es gerade um Leben und Tod ging.
Dann fiel ihr Blick auf ihren Sohn, den sie noch nie so fertig gesehen hatte, wie in diesem Moment. Das Blut an seiner Hose beunruhigte sie, aber noch viel mehr machte ihr sein leerer Blick Angst.
„Brahve.“ sagte sie vorsichtig, denn offensichtlich hatte er noch nicht mal bemerkt, dass sie hier war.
Langsam hob Brahve seinen Kopf und der Ausdruck in seinen Augen veränderte sich sofort in einen etwas wärmeren Ausdruck von dem die Meisten vermutlich gedacht hätten, dass er zu diesem nicht wirklich fähig gewesen wäre.
Im nächsten Moment sprang er auf, stöhnte über sein schmerzendes Bein, ignorierte es dann aber und ließ sich einfach nur in die Arme seiner Mutter fallen.
Beth schluckte schwer. Als Kind hatte Brahve es geliebt, zu knuddeln, wollte ständig umarmt werden und neben ihr sitzen, sich an sie lehnen, aber seitdem er ein Teenager war, war er ihr völlig entglitten. Sie wusste, dass die Differenzen zwischen ihm und Wrath zum Großteil Schuld daran waren und sie hätte alles gegeben, diese irgendwie zu lösen.
Jedenfalls war es eine Ewigkeit her, dass sie ihren Sohn umarmt hatte, dass er von sich zu ihr gekommen war und ihre Umarmung gesucht hatte. Fest schlang sie ihre Arme um ihn, drückte den so viel stärkeren und größeren Körper an ihren eigenen und hielt ihn einfach nur fest. Wie einen kleinen Jungen. Ihr kleiner, großer Junge.
„Shhht, Brahve, es ist schon gut.“ flüsterte sie, zog ihn mit sich zu den Stühlen und setzte sich, ihn noch immer fest umarmt.
Brahve wusste nicht wirklich, wie lange er so da gesessen hatte, in den Armen seiner Mutter und geweint hatte wie ein kleiner Junge. Aber offensichtlich musste es alles raus. Nachdem er einmal begonnen hatte, konnte er einfach nicht mehr aufhören.
Langsam hob er seinen Kopf und sah seine Mutter an. „Danke, Mom.“
„Schon gut. Ich will aber, dass du jemandem nach deinem Bein sehen lässt, sobald einer von ihnen Zeit hat, okay?“
Brahve senkte kurz seinen Kopf, traurig darüber, dass er jetzt auch noch seiner Mutter Sorgen bereitet hatte. „Ja, werde ich machen.“ versprach er.
„Okay. Warum... na ja, warum hast du nicht nach einem von uns rufen lassen, als du her gekommen bist?“ wollte sie wissen.
„Ich... Dad wäre doch sicher sauer und...“
Beth schüttelte ihren Kopf. „Dein Vater und ich lieben dich, Brahve. Wirklich. Ich weiß, dass es schwer für dich ist, aber wir lieben dich. Und außerdem, warum sollte er sauer auf dich sein? Nach allem, was Blay mir erzählt hat, hast du versucht, dich und Kristin zu verteidigen.“
Überrascht sah Brahve von seiner Mutter zu Blay, der nun wieder neben Qhuinn saß und sich leicht an seinen Partner gelehnt hatte. Schon wieder diese Version des Ganzen, die auch Qhuinn vorhin schon erwähnt hatte, aber Brahve gelang es einfach nicht, es selber auch von dieser Seite aus zu sehen.
„Es war meine Schuld, Mom. Ich hab sie nicht richtig beschützt. Und jetzt... jetzt hab ich Angst davor, dass sie stirbt.“
Komischerweise fiel es ihm jetzt plötzlich nicht mehr schwer, vor seiner Mutter offen zu sein und das obwohl er normalerweise seiner Familie kaum seine wahren Gefühle zeigte. Aber jetzt war er einfach nur... alleine. Brauchte jemanden, an dem er sich fest halten konnte. Jetzt, wo Kristin nicht da war...
„Mach dir keine Sorgen, Brahve, sie wird es sicher schaffen.“ sagte Beth und streichelte ihm erneut leicht über den Rücken.
„Mom, sie... sie ist meine beste Freundin. Sie... es gibt niemanden, der mir näher steht als sie.“
„Das weiß ich doch. Sie wird es schaffen, ganz sicher“ wiederholte sie.
In dem Moment öffnete sich die Tür des Behandlungszimmers und Vishous und Jane traten in diese. Alle Gespräche verstummten sofort und alle richteten ihre Augen auf die Beiden.
„Ich habe sie operiert. Sie... ist in einem sehr kritischen Zustand.“ sagte Jane und es fiel ihr in dem Fall nicht leicht, einfach nur die professionelle Ärztin zu sein, die sie ihr Leben lang gewesen war. Immerhin stand sie Rhage und Mary doch sehr nah, hatte von Anfang an jeden Schritt von Kristin mitbekommen, wusste genau, wie wichtig dieses Mädchen für die Beiden war. Sie holte tief Luft, wappnete sich für ihre nächsten Worte.
„Sie wird Blut brauchen.“
Jane hatte diese Worte kaum ausgesprochen, als Rhage sich auch schon von Mary gelöst hatte und aufgesprungen war. „Ich gebe ihr alles Blut, was sie braucht.“ sagte er.
Langsam schüttelte die Ärztin der Bruderschaft den Kopf. „Nein. So... habe ich das nicht gemeint. Ich weiß, dass du ihr alles geben wirst, Rhage, aber das wird nicht funktionieren. Sie braucht menschliches Blut. Passendes menschliches Blut. Und in aller Regel ist die Chance, dass das Blut der Eltern passen könnte am Größten.“ Bei den letzten Worten lag ihr Blick auf Mary. Sie wusste, was diese in ihr auslösen konnten, aber sie musste Kristins Eltern und auch allen Anderen die Wahrheit über den Zustand der jungen Frau sagen.
Mary erstarrte. Das so zu hören, daran erinnert zu werden, dass Kristin nicht ihr eigenes Fleisch und Blut war, riss Wunden in ihr auf, von denen sie geglaubt hatte, dass sie geheilt waren, durch das Glück was sie zusammen mit Rhage und Kristin erleben durfte. Jetzt rissen sie auf und es fühlte sich so an, als würden tausende kleiner Nadeln in ihr Herz stechen.
Seit über 18 Jahren hatte sie damit gelebt, in Kristin ihre eigene Tochter zu sehen, hatte sogar selber fast vergessen, dass sie sie nicht selber zur Welt gebracht hatte und jetzt, wo ihre Tochter sie mehr denn je brauchte, würde sie ihr nicht wirklich helfen können, würde sie im Stich lassen müssen, als Mutter versagen.
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