Zum
ersten Mal seit dem Angriff, fühlte Kristin sich stark genug, um
wirklich aufzustehen und das Zimmer zu verlassen. Sie freute sich,
dass sie eine Dusche nehmen konnte, sich etwas stylen konnte und zog
sich dann recht lockere Klamotten an, bevor sie ihr Zimmer verließ
und zunächst ein wenig durch das Anwesen lief. Recht schnell
jedoch zog es sie zu Brahves Zimmer, wollte sehen, ob er da war und
ob er vielleicht Zeit dafür hatte, etwas mit ihr zu machen.
Schon
als sie sich Brahves Zimmer näherte, dessen Tür nur leicht
angelehnt war, hatte sie kein gutes Gefühl, konnte aber auch
nicht einfach umdrehen und gehen. Sie wollte nachsehen, ob es Brahve
gut ging, musste einfach sicher gehen.
Als
sie die Tür ganz öffnete, erstarrte sie komplett. Sie war
gerade in dem Moment dazu gekommen, als Brahve sich knurrend über
die Auserwählte beugte und deren Robe zerriss. Sie presste eine
Hand vor ihren Mund, entsetzt von dem, was sie gerade zu sehen zu
bekommen. Ihre Beine wollten ihr nicht gehorchen, so dass sie sich
kein Stück von der Stelle bewegte, auf dieses schreckliche Bild
vor sich starrte. Nie hatte sie geglaubt, dass Brahve zu so etwas
fähig wäre.
Brahve
wusste nicht genau, was es war, das ihn in seinen Bewegungen stoppen
ließ. Instinkt vielleicht. Das Wissen, dass gerade etwas
überhaupt nicht stimmte. Er zwang sich, seine Lippen von der
Wunde an Ravenas Hals zu lösen und drehte seinen Kopf leicht,
sein Körper noch tief in Ravenas versunken.
Kristin
erstarrte erneut, stolperte ein paar Schritte zurück, als ihre
Beine ihr wenigstens halbwegs wieder gehorchen wollten. Der Ausdruck
in Brahves Augen war wild. Sie konnte ihn in diesem kaum noch
erkennen. Seine Lippen waren blutverschmiert, seine Fänge weit
ausgefahren. Nichts von dem, was sie sonst in ihm sah – ihrem beste
Freund, der Person, die tiefer in ihrem Herz verwurzelt war, als sie
gedacht hatte.
Ihr
wurde bewusst, dass es bei dem, was sie vor sich sah um Blut ging. Um
Sex. Beides Sachen, die sie Brahve so nicht geben konnte. Beim
Zweiten wurde ihr leicht anders, aber offensichtlich hatte Brahve so
gar nicht die Vorstellungen davon, die sie hatte und somit würde
sie ihm nie das richtige geben können. Erneut presste sie ihre
Hand vor den Mund und schaffte es dann, sich ganz umzudrehen und weg
zu rennen.
„Habt
ihr es ihr denn jetzt gesagt? Also nachdem sie mit bekommen hat, dass
es Butchs Blut war, was ihr geholfen hat und nicht deins?“
Marissas
Stimme. Und ihre Worte ließen Kristin inne halten. Vor der Tür
blieb sie stehen und hielt den Atem an, als sie auf die Antwort von
ihrer Mutter wartete.
„Nein,
haben wir nicht. Rhage und ich... wir finden immer noch, dass wir es
ihr nicht sagen sollen. Wir wollen nicht, dass sich irgendwas
zwischen uns ändert.“ sagte Mary leise.
Kristin
wurde noch mal mehr anders und verschiedenste Szenarien worum es bei
diesem Gespräch ging, spielten sich vor ihrem Auge ab.
„Das
kann ich verstehen. Obwohl ich ja denke, sie ist und bleibt nun mal
deine Tochter. Es gibt doch niemanden mehr, der sie dir wegnehmen
kann.“ gab Marissa zu bedenken.
„Ich
weiß. Eigentlich weiß ich das ja auch. Manchmal fühle
ich mich immer noch schlecht deswegen, dass ich irgendwie erleichtert
darüber bin, dass ihre Mutter tot ist, dass sie nie vor der Tür
stehen kann und mir Kristin wegnehmen kann.“
Kristin
presste eine Hand vor ihren Mund. Wie viel sollte sie heute noch
ertragen? Erst hatte es sie vollkommen erschüttert, welche Seite
sie von Brahve zu vor hatte kennenlernen müssen und jetzt brach
ihre heile Welt gerade vollkommen in sich zusammen. Sie konnte nicht
fassen, was sie da gerade erfahren hatte. Ihr Herz fühlte sich
so schwer an wie Blei, ihre Kehle wie zu geschnürt.
Einen
Moment später stürzte sie ins Wohnzimmer, sah mit
tränenverschleiertem Blick zu ihrer Mutter und ihrer Tante.
„Kristin...“
Mary erstarrte, wurde blass. Sie brauchte nicht zu fragen ob Kristin
gehört hatte, worüber Marissa und sie geredet hatten.
„Schatz, ich...“
„Hör
auf damit. Hör auf damit, jetzt weiter so zu tun, als wäre
alles in Ordnung. Und als wäre ich dein Schatz!“ unterbrach
Kristin sie überraschend hart.
„Aber...
lass uns darüber reden, hm?“ versuchte Mary es weiter.
„NEIN!“
Kristin schüttelte den Kopf, starrte ihre Mutter einfach nur an.
„Warum sollten wir jetzt reden, wo ihr mein ganzes Leben lang nicht
wirklich mit mir geredet habt?“ Sie schluckte schwer. „Du freust
dich darüber, dass meine... meine Mutter...“ Sie stockte
leicht, es war nicht einfach, jetzt von ihrer Mutter als einer ihr
völlig fremden Person zu sprechen. „... dass meine Mutter tot
ist? Dann... weißt du jetzt ja, wie sich das anfühlen
muss... du bist für mich nämlich jetzt auch tot!“ Noch
nie hatte sie so mit Mary gesprochen, noch nicht mal ansatzweise so
über sie gedacht und es zerriss ihr selber das Herz, dass sie
das nun so tun musste. Länger würde sie es auf keinen Fall
in diesem Zimmer aushalten, mit ihr in diesem Zimmer, ohne dass sie
zusammen brechen würde und so drehte sie sich um und rannte aus
dem Raum.
„Kristin...
warte!“ rief Mary ihr hilflos nach. Marissa legte ihr sanft eine
Hand auf den Arm.
„Es
tut mir so leid, dass das passiert ist. Aber, du weißt, dass
sie das nicht so gemeint hat, oder? Sie hat das nur gesagt, weil sie
wütend und geschockt ist, wegen dem, was sie erfahren hat, aber
sie hat es nicht so gemeint.“ versuchte sie Mary etwas zu
beruhigen.
„So...
so... habe ich sie noch nie gesehen. Und sie ist doch eigentlich noch
so schwach.“ murmelte Mary. „Ich... jetzt... habe ich sie wohl
doch verloren.“
„Nein.
Das hast du nicht. Wenn sie sich beruhigt hat, dann werdet ihr in
Ruhe über alles reden und dann sieht alles schon wieder ganz
anders aus. Soll ich Rhage Bescheid sagen?“
Mary
nickte schwach. Sie konnte Rhage jetzt wirklich gebrauchen, obwohl
sie eine gewisse Angst davor hatte, dass Rhage ihr die Schuld dafür
geben könnte, dass das eben passiert war.
Blind
vor Wut, Verzweiflung und Enttäuschung stürmte Kristin in
ihr Zimmer und riss eine Reisetasche aus ihrem Schrank, in die sie
ziemlich wahllos einige Sachen schmiss. Unter keinen Umständen
wollte sie jetzt in diesem Haus bleiben. Jetzt, wo die Menschen, die
ihr am meisten bedeuteten sie am meisten enttäuscht hatten, gab
es nichts mehr, was sie hier hielt.
Nachdem
sie einiges eingepackt hatte, setzte sie sich an den Tisch in ihrem
Zimmer und nahm ein Stück Papier um eine kurze Nachricht auf
dieses zu schreiben, die sie an ihren Vater adressierte.
„Ich
kann nicht länger hier bleiben. Mach dir um mich keine Sorgen.
Jetzt weiß ich wenigstens, warum ich mich immer so gefühlt
habe, als würde ich nicht so wirklich hier her gehören. Ich
habe nie wirklich hier her gehört. Ich muss jetzt meinen eigenen
Platz finden.
Kristin.“
Nach
kurzem Zögern nahm sie die Kette ab, die Mary ihr geschenkt
hatte und legte sie auf den Zettel, auf dem sie die Nachricht
geschrieben hatte und der mittlerweile deutliche Spuren ihrer Tränen
aufwies. Die Kette von Brahve ließ sie um, obwohl sie im Moment
nicht mal wirklich wusste, warum. Vielleicht weil sie noch nicht ganz
so weit war um sich von allem auf einmal zu lösen, was ihr aus
ihrem Leben noch blieb.
Sie
nahm die Tasche, warf nicht noch mal einen Blick zurück in ihr
Zimmer und verließ das Anwesen. Wohin genau sie gehen wollte,
wusste sie nicht.
Eine
so verzweifelte Mary hatte Rhage noch nie zu vor erlebt und wenn er
ehrlich war, dann hatte er es auch nie erleben wollen. Es war nicht
einfach, überhaupt etwas von dem zu verstehen, was sie sagte,
wurde sie doch immer wieder von herzzereissendem Schluchzen
unterbrochen und zitterte sie am ganzen Körper. Er versuchte so
gut es ging sie zu halten, aber selbst seine Nähe schien sie
nicht zu beruhigen.
„Ich
hab sie verloren.“ wiederholte sie zum bereits unzähligem
Male.
„Nein.
Das glaub ich nicht. Es war ein Schock für sie. Und sie wird
verletzt sein. Verwirrt. Enttäuscht. Aber wenn ihr erster Schock
vorbei ist, dann wird sie mit uns sprechen. Ganz sicher.“ Auch er
hatte das jetzt schon mehrfach wiederholt, wollte selber wirklich
daran glauben, was er sagte.
„Sie...
hat gesagt, ich bin tot für sie.“ murmelte Mary.
„Shhhht...
ich werde jetzt nach ihr sehen und werde versuchen, mit ihr zu
reden.“ Rhage küsste ihr sanft auf die Stirn und lief dann zum
Zimmer seiner Tochter.
Dass
sie auf sein Klopfen nicht antwortete beunruhigte ihn zunächst
nicht wirklich. Er nahm an, dass sie zur Zeit allgemein niemanden
sehen würde und ihn vermutlich erst recht nicht. Nach
mehrmaligem Versuchen und einigen Minuten des Wartens betrat er
schließlich ihr Zimmer. Auch als er dieses leer vorfand,
versuchte er, noch einigermaßen ruhig zu bleiben. Kristin
konnte sich auch woanders auf dem Anwesen zurück gezogen haben.
Sein
Blick wanderte durch das Zimmer, suchte nach Anzeichen, wo er Kristin
finden könnte. Schließlich entdeckte er den Zettel auf dem
Bett und er ging mit viel zu schnell schlagendem Herzen zu diesem und
griff mit etwas zittrigen Händen danach. Bereits nach den ersten
Worten musste er kurz die Augen schließen, schüttelte
immer wieder mit dem Kopf. Das hier musste einfach nur ein böser
Alptraum sein.
Rhage
ballte die Hände zu Fäusten. Das hier war so viel schlimmer
als in seinen schlimmsten Alpträumen. „NEIN!“ schrie er, so
laut, dass vermutlich jeder im Anwesen gehört hatte.
Kurz
darauf stürzte auch schon Mary ins Zimmer. „Sie ist weg.“
murmelte sie leise.
Schwach
nickte Rhage und hielt seine Arme auf, damit sie zu ihm kommen konnte
und sie beide gemeinsam ihrer Verzweiflung freien Lauf lassen konnte.
Mary flüchtete sich in seine Arm, nahm die Kette, die Kristin
zurück gelasen hatte in ihren zittrigen Hände und presste
sie fest an sich. „Sie... sie ist doch unser... unser Baby. Ich
weiß, ich habe vielleicht kein Recht das zu sagen, weil es
meine Schuld ist...“
„Nein, Mary.“ Rhage schlang seine Arme noch fester um den zierlichen Körper seiner Frau. „Du hast jedes Recht dazu, zu sagen, du bist ihre Mutter. Und das weißt du auch. Kristin... Kristin... wird das auch noch heraus finden.“ murmelte er, auch wenn ihm diese Worte alles andere als leicht fielen. Zu groß war seine Angst um seine Tochter, die jetzt ganz alleine irgendwo da draußen war. Immerhin hatte sie gerade erst einen Angriff der Lesser überlebt...
„Nein, Mary.“ Rhage schlang seine Arme noch fester um den zierlichen Körper seiner Frau. „Du hast jedes Recht dazu, zu sagen, du bist ihre Mutter. Und das weißt du auch. Kristin... Kristin... wird das auch noch heraus finden.“ murmelte er, auch wenn ihm diese Worte alles andere als leicht fielen. Zu groß war seine Angst um seine Tochter, die jetzt ganz alleine irgendwo da draußen war. Immerhin hatte sie gerade erst einen Angriff der Lesser überlebt...
„Rhage?
Kristin ist nicht so schwach, wie du vielleicht denkst.“ Vishous
Stimme riss Rhage aus seinen Gedanken. „Wir werden sie finden und
ihr wird nichts passieren. Vielleicht musste das passieren, damit sie
zu sich selber findet. Wenn sie das Gefühl hatte, nicht dazu zu
gehören, braucht sie so was vielleicht.“ V's Stimme war völlig
ruhig, seine Worte voller Logik.
„Hab
ich schon mal gesagt, dass ich hasse, wenn du so redest und dabei
auch noch recht hast? Bei Kristin denke ich aber nicht ganz so
logisch.“ murmelte Rhage.
„Ich
weiß. Und dafür hast du ja uns. Wir werden auch nach ihr
suchen.“ Als Rhage seinen Kopf hob sah er neun Männer vor dem
Zimmer auf dem Flur stehen. Die Brüder. Und alle wirkten
entschlossen, ihm zu helfen.
Bis
Brahve aus seiner Starre wieder erwachte, dauerte es einen Moment.
Das hier schien ihm so unreal zu sein. Er hatte Ravena gerufen, weil
er Angst davor gehabt hatte, Kristin vielleicht zu verletzten, Angst
davor, dass sie seiner wilden, gefährlichen Seite vielleicht zu
nahe kommen würde und jetzt hatte er sie genau damit verletzt.
Niemand hätte ihn je so sehen dürfen. Und erst recht nicht
Kristin. Vor allem nicht Kristin. Angewidert von sich selber, zog er
sich endgültig von Ravena zurück und reichte ihr ein Shirt,
dass sie sich überziehen konnte. Längst war jegliche Lust
auf Sex bei ihm vergangen. Schnell verschloß er noch ihre
Wunden und tastete nach einem Tuch um sich das Blut von den Lippen
und aus dem Gesicht zu wischen. Er hatte zwar keine Ahnung, was er
ihr sagen sollte, aber er musste mit Kristin reden, musste ihr
erklären, dass das hier alles nichts mit ihnen zu tun hatte.
Dass das nicht der wahre Brahve war, was sie da eben gesehen hatte.
Der wahre Brahve war er nur bei ihr. Würde es immer nur bei ihr
sein.
Er
stolperte, als er hastig ein paar Sachen zusammen suchte, die er sich
überziehen konnte. Nackt konnte er ganz sicher nicht gegenüber
treten.
„Brahve?
Herr?“
Als
er die Stimme der Auserwählten hörte, zuckte er zusammen.
Er hatte schon fast vergessen, dass sie auch noch hier war und
stöhnte genervt auf. „Ravena, danke. Du kannst jetzt gehen.“
sagte er nur knapp. „Ich muss was erledigen!“ Kaum hatte er das
gesagt, verließ er auch schon sein Zimmer.
Als
Brahve sich Kristins Zimmer näherte und die versammelte
Bruderschaft auf dem Flur stehen sah, wusste er sofort, dass etwas
ganz schlimmes passiert sein musste. Er hielt ein wenig Abstand,
wusste, dass er schließlich nicht zu den Brüdern gehörte
und sie ihn somit auch nicht in ihre Planung einbeziehen würde.
Er schnappte einige Gespächsfetzen auf, in denen es darum ging,
dass sie Kristin finden musste, spürte außerdem
verschiedene Gefühle... Verzweifung... auf der anderen Seite
Entschlossenheit.
Aus
all dem kombinierte Brahve, dass Kristin verschwunden war und das zog
ihm den Boden unter den Füßen weg. Sie war sein Halt. Er
brauchte sie, um sich nicht selber zu verlieren. Da er wusste, dass
man ihn nicht fragen würde, ob er suchen helfen würde und
dass man ihn auch nicht mitnehmen würde, wenn er danach fragen
würde, stand für ihn fest, dass er selber nach ihr suchen
musste. Immerhin war es seine Schuld, dass sie gegangen war und er
würde sie finden! Er musste einfach!
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